Die Berliner Wohnungsnot

Durch die Verteuerung preiswerter Wohnungen, den Verlust von Mietpreis- und Belegungsbindungen, den Verkauf öffentlicher Wohnungsbestände und die deutliche Zuwanderung ist eine Dynamik entstanden, in der inzwischen auch Mittelschichtshaushalte Schwierigkeiten haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Hierfür gibt es vielfältige Gründe. Aus den Mietspiegeldaten des letzten Jahrzehnts ist ein durchgängiger Anstieg der Mietpreise festzustellen. Seit 2003 sind die Bestandsmieten insgesamt um 29 Prozent gestiegen. Die Angebotsmieten sind seit 2009 sogar um mindestens 30 Prozent gestiegen (Berliner Zeitung, 29.10.2014). Die Defizite der sozialen Wohnungsversorgung haben sich durch diese Wohnungsmarktdynamik und die regressive Wohnungspolitik der letzten Jahre drastisch ausgeweitet. Angetrieben von der Privatisierung öffentlichen Wohnungsbestandes und einer hohen Ertragserwartung privater Eigentümer und Investoren, erfolgen bei jeder Möglichkeit Mieterhöhungen, wodurch die Spielräume für Haushalte mit geringen Einkommen sowohl im Bestand als auch im Angebot des Berliner Mietwohnungsmarktes immer kleiner werden. In einer Mieterstadt wie Berlin, in der 85 Prozent aller Haushalte zur Miete wohnen, haben diese Haushalte in der Regel das Nachsehen. Die Wohnungsversorgungqualität einer Stadt misst sich also daran, ob es gelingt, auch Haushalte mit geringen Einkommen mit angemessenen Wohnungen zu versorgen.

 

Die aktuellen Einkommensstatistiken Berlins weisen 18 Prozent aller Haushalte als armutsgefährdet aus. Darunter gefasst werden alle Haushalte, die mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens auskommen müssen. In Berlin müssen das nach aktuellen Daten der Einkommensstatistik fast 260.000 Haushalte mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze auskommen. Die größte Gruppe stellen die 143.000 Ein-Personen-Haushalte, die mit weniger als 705 Euro im Monat über die Runden kommen müssen, darunter viele alte alleinstehende Menschen.

 

Wenn aus diesem geringen Einkommen nur 30 Prozent für die Nettokaltmiete eingesetzt werden soll, dann könnten diese armen Ein-Personen-Haushalte maximal 211 Euro im Monat für die Miete ausgeben. Dabei muss auch noch zusätzlich für die Betriebs-, Heiz- und Energiekosten fast genau soviel aufgewendet werden, dass den meisten kaum der Regelsatz von Hartz IV zum Leben bleibt, weil von diesen Kosten zu wenig durch das Jobcenter auf Grundlage der Wohnaufwendungenverordnung übernommen wird. Wenn für Einpersonenhaushalte zumindest der durchschnittliche Wohnflächenverbrauch von 38,8 Quadratmetern pro Person angesetzt würde, dann könnten diese Haushalte höchstens eine Nettokaltmiete von 5,42 Euro/qm tragen. Für größere Haushalte wurden entsprechend größere Wohnungen als Berechnungsgrundlage angesetzt.

 

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Amt für Statistik Berlin-Brandenburg; Berechnung Andrej Holm 2013

 

Zur Beurteilung der Versorgungssituation auf dem Berliner Mietwohnungsmarkt ist daher zu prüfen, ob es für die oben abgeleitete Miete von 5,42 €/qm Nettokalt nach Preis und Größe überhaupt genügend angemessene Wohnungen für die Haushalte mit geringem Einkommen gibt. Um das zu erläutern, folgt eine Auswertung des Mietspiegels hinsichtlich der Anzahl an preiswerten Wohnungen für diese Haushalte.

 

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Amt für Statistik Berlin-Brandenburg; Berechnung Andrej Holm 2013

 

Alleine für die ca. 143.000 alleinlebenden Menschen mit geringem Einkommen fehlen in Berlin über 100.000 preiswerte Wohnungen. Auch für die über 75.000 Zwei-Personen-Haushalte mit Einkommen unterhalb der Armutsschwelle gibt es nur knapp 60.000 laut Mietspiegel preislich passende Wohnungen. Damit fehlen in der Stadt Berlin über 120.000 preiswerte Wohnungen und deshalb gibt es für fast die Hälfte der armutsgefährdeten Haushalte zurzeit in Berlin keine angemessene und leistbare Wohnung. Aufgrund des besonderen Mietenanstiegs bei den bisher preisgünstigen Wohnungen löst sich dieses für die Wohnraumversorgung wichtige Wohnungssegment faktisch auf. Die Altbaubestände boten seit Jahrzehnten zuverlässig die preiswertesten Mietpreise und haben Berlin vor einer Konzentration der Armut in der Peripherie bewahrt. Unter den Wohnungsanzeigen sind ganze Stadtteile in der Innenstadt praktisch schon jetzt Zonen ohne Angebote für Menschen mit geringem Einkommen. Insbesondere Menschen im Alter, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen, die Transferleistungen beziehen sowie Menschen, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt sind, sind von dieser Wohnungsnotlage besonders betroffen.

 

Verfassungsauftrag: Wohnraumversorgung

Nach Artikel 28 Absatz 1 der Berliner Verfassung wirkt das Land darauf hin, dass die Bevölkerung mit angemessenem Wohnraum versorgt ist. Daher ist das Land verpflichtet, die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum, insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen, zu fördern. Diese grundsätzliche Verpflichtung ist in der gesamtstaatlichen Handlungsverantwortung angesichts des deutlichen Mangels an preiswertem Wohnraum, vermehrter Zuzüge in die Stadt und der künftigen demographischen Entwicklung von besonderer Bedeutung.

 

Die Erfüllung dieses verfassungsrechtlichen Versorgungsauftrages ist daran zu messen, ob gerade Haushalten mit geringem Einkommen Wohnraum zu angemessen Bedingungen zur Verfügung steht. Dies ist derzeit nicht der Fall, die Politik zögert zu handeln. Für diesen Bereich staatlichen Handelns soll deshalb durch das Berliner Wohnraumversorgungsgesetz (WoVG Bln) eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen werden.